Design am Küchentisch
Unsere Diplomierenden erarbeiteten ihre Abschlussprojekte dieses Jahr unter aussergewöhnlichen Umständen - und reüssierten mit Bravour! Sie arbeiteten von zuhause oder von ungewohnten Orten aus und waren gezwungen, zu improvisieren. Dass Improvisation im Design schon früher präsent war, zeigt ein kurzer Blick in die Vergangenheit – und ein Gespräch mit dem Designer und ehemaligen Dozenten der Kunstgewerbeschule Zürich, Franco Clivio.
In vielen kulturellen Bereichen ist Improvisation positiv besetzt - so zum Beispiel in der Musik. Im Design passiert sie andauernd, aber niemand spricht darüber.
Aufklärungsarbeit diesbezüglich leistete Annika Frye, die 2018 im Rahmen der Dienstagabendreihe zu Gast in der Fachrichtung Industrial Design war. In ihrem Buch Design und Improvisation zeigt sie unter anderem auf, wie auch in der Designabteilung von Braun - als mythenumrankter Olymp der funktionalistischen Nachkriegsmoderne - durchaus „improvisiert“ wurde, wenn auch nach aussen lieber lineare Prozesse kommuniziert wurden. Auch bei Braun passierten unbeliebte Zwischenschritte, Tüfteleien und Behelfsmässigkeiten (nicht zu verwechseln mit Basteleien ohne Qualitätsanspruch!), und vor allem musste mit knappen Ressourcen hantiert werden.
Frye meint hierzu: „Nicht nur der Plan bestimmt das Modell, auch das Modell bestimmt den Plan.“ Und der Komponist, Musiker und Planungstheoretiker Christoph Dell sieht den „günstigen Moment“ (griechisch: kairos) irgendwo zwischen der Kunst (hier als Können zu verstehen, griechisch: techne) und dem Zufall (griechisch: tyche). Laut Dell ist es gerade nicht die absolute Freiheit, sondern die Einschränkung, welche Improvisation ermöglicht! Und bereits 1972 sprachen sich Charles Jencks und Nathan Silver mit ihrer Publikation Adhocism: The Case for Improvisation für die Improvisation im Design aus.
Ähnlich klingt es auch bei Franco Clivio, dem Schweizer Designer, der unter anderem für seine Arbeiten für Lamy, Gardena und Erco und für seine grosse und mit Leidenschaft betriebene Sammlung anonymer Designgegenstände bekannt wurde. Selber an der berühmten HfG Ulm ausgebildet, war er von 1980 bis 2002 Dozent für Produktdesign an der Zürcher Kunstgewerbeschule, der Vorgängerinstitution der heutigen ZHdK.
Die Frage, ob er überrascht sei, wie gut die Studierenden in der Corona-Situation von zuhause arbeiten und improvisieren, verneint er.
„Das ist ein integraler Teil des kreativen Prozesses. Das überrascht mich überhaupt nicht. Ich war in meinen jüngeren Jahren oft in Amerika - die Werkstätten dort waren viel schlechter ausgestattet als die bei uns in Europa. Absolutes Minimum. Aber die haben mit Karton tolle Sachen hergestellt, oder mit Gips, das hätte man nicht für möglich gehalten. Improvisieren ist eigentlich das Beste, was einem passieren kann, denn der Designprozess ist sowieso immer von zahlreichen Faktoren abhängig. Übrigens konnte Sottsass selber gar keine Modelle bauen - das hat er für Olivetti bei Giovanni Sacchi auswärts machen lassen, wie viele andere auch übrigens. Und der wiederum hat ihnen dann gesagt, was alles technisch möglich ist oder nicht. Aber: Ein Modell kann man auch mit primitiven Mitteln bauen, einen Telefonhörer kann ich aus Schaumkarton ausschneiden. Hierzu brauche ich keine hochwertige Werkstatt.“
Und für Clivio ist die zentrale Frage sowieso von den technischen Möglichkeiten entkoppelt:
„Die grosse Herausforderung ist, das Problem zu erkennen. Denn oft ist das vermeintlich zu lösende Problem nicht das eigentliche Problem. Das ist auch eine Ulmer Position! Und das hat nicht primär mit der zur Verfügung stehenden Technik zu tun. Ich habe in meiner Lehre die Studierenden immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, ins kalte Wasser geschmissen und ihnen keinen klaren Lösungsweg vorgebeben. Die waren dann manchmal perplex und zerstört, aber am Tag nach den Zwischenbesprechungen waren sie stolz darauf, die Lösung selber gefunden zu haben. Oder wir hatten Projekte, in denen die Studierenden ihre Aufgabenstellungen innerhalb eines Themas selber definieren mussten. Das hat nichts mit Bosheit zu tun, sondern damit, dass man die Leute fordern muss!“
Clivios Ausbildungsstätte, die HfG Ulm, ging als die Institution in die Geschichte ein, die sich über Methodologien Gedanken machte - was auch Clivio bestätigt. Doch die interessanten Momente passierten am Rande der Institution:
„Zwei Jungunternehmer wollten von den Ulmern einen Schlauchwagen für den Gartenbereich entwerfen lassen, besassen aber wenig finanzielle Mittel.
In Fahrt kam das Projekt dann, weil ein involvierter lokaler Samenhändler - der regelmässig bei den Parties an der Hochschule ein und aus ging – zusätzlich Leute mit technischem Know-how via Annonce anwarb. Entworfen wurde teilweise am Küchentisch, Meetings fanden dann in Barracken statt.
Ein Entwurfsstudio im klassischen Sinne gab es gar nicht. Das war unkonventionell, das war Improvisation! Und wenn wir dabei sind: Apple hat auch in der Garage begonnen!“
Die kritische Auseinandersetzung mit Methodologien hat Clivio auch mit in die Ausbildung in Zürich gebracht:
„Es wird zu wenig darüber gesprochen - auch wenn DesignerInnen es intuitiv können. Das ist ähnlich wie beim Kochen! Ich habe in meiner Lehrtätigkeit immer versucht, das Kochen als Analogie für das Designen zu verwenden – eine Kombination aus systematischem Denken und schnellen, spontanen Entscheidungen.“
Auf die Frage, welche Aspekte er ebenfalls in die Zürcher Ausbildung integriert habe, meint er:
„Ich habe sie geöffnet und die Zusammenarbeit mit der Industrie gestärkt. Wir haben von Ulm das Reverse-Engineering übernommen, also das Auseinanderbauen von technischen Geräten, um diese Geräte auch wirklich verstehen zu können. Von Braun haben wir 8 neue Kaffeemaschinen hierzu bekommen, die wir mit dem Auto an die Schule gefahren haben, um sie dort auseinanderzubauen. Und die Studierenden mussten formal üben. Zeichnen, zeichnen, zeichnen, schleifen, schleifen, schleifen… Besteckentwürfe für eine Luzerner Firma entstanden dann übrigens tatsächlich am Küchentisch und nicht in der Werkstatt!“
Einiges, was Clivio hier beschreibt, erhielt im Frühjahr 2020 eine erneute Aktualität. Vieles ist überraschend gut gelaufen, der intellektuelle Funke der Industriedesignerinnen sprang auch zuhause, in der Garage, am Küchentisch. Ja, die Werkstätten wurden vermisst, die Materialbeschaffung war anspruchsvoll, die Kommunikation mittels digitaler Werkzeuge manchmal diffus und ermüdend, das Physische fehlte, der Geruch der Materialien und die Geräusche der Produktion. Aber: Die zentrale Frage, ob die richtigen Probleme erkannt und definiert wurden, kann offen bejaht werden. Und sie wurden mit viel Geschick und noch mehr Flexibilität gelöst – irgendwo zwischen techne und tyche.
Text: Cyril Kennel
In unserer HOMESTORY erzählen die Studierenden, wie sie zuhause arbeiten und inwiefern sich ihr Arbeitsalltag durch Corona verändert hat.